die grenzen sind vermessen (2)
Zwei Autorinnen ver(b)raten ihre Kindheit
Corinna Soria: Leben zwischen den Seiten. Erzählung
Klagenfurt: Wieser 2000
Rezensiert von: roswitha m. jauk
I.
Corinna Sorias Debüt saugt den Leser gleichsam in eine Kindheit am
Rande des Schlimmstmöglichen. Nach einer kurzen Spanne gemeinsamen
Weges hat der Vater einen Abgang gemacht. Schubweise gleitet die Mutter
in eine Welt der diffusen Ängste und konkreten Bedrohungen.
Wahnvorstellungen über geheime Verfolger, Panikattacken und Zuflucht zu
konspirativen Stimmen treiben sie in die Isolation. Ihre Tochter zieht
sie mit in das Reich der Toten. Zoe aber, die kleine Heldin, wird im
Orkus ihrem Namen gerecht. Zoe, so verrät uns die Autorin, heißt das
Leben.
II.
Soria erzählt im eruptiven Spracherguss, wie Zoe ihr Bedürfnis nach
Normalität gegen den Wahnsinn ihrer Mutter und ihre Mutter gegen eine
verständnislose, aburteilende Umwelt verteidigt. Sie sucht nach Ordnung
im Chaos und flieht in die Welt der Bücher. „Ohne Bücher kann ich nicht
schlafen, atmen, sein, ohne Bücher ersticke ich, gehe verloren,
verliere mich, ohne Bücher verhungere, verdurste, verschwinde ich.“
Eingesperrt ohne Licht, Nahrung und Hoffnung, entwirft sie in
exzessiven Gedankenspielen eine Gegenwelt zu ihrer engen realen
Existenz. Sie lernt, für sich herauszuschlagen, was drinnen ist,
erpresst sich Süßigkeiten mit dem Messer und hängt ihr Herz an einen
Grizzlybären. Die psychische Erkrankung der Mutter wird zu einer Form
von Ritual.
III.
Kurze Sätze und Satzfragmente werden durch Beistriche zu langen
Satzgeflechten gefügt. Es entsteht der Eindruck atemlosen
Los-Werden-Wollens. So darf man auch spekulieren, dass sich die Autorin
hier persönliche Qualen vom Leib schreibt. Die Sprache wirkt durch eine
Aneinanderreihung von Handlungs-, Gedanken- und Dialogfragmenten rasant
und getrieben. Objekt und Prädikat sind häufig vor das Subjekt gereiht.
Die Sprache ist lyrisch gefärbt und auf prätentiöse Weise lakonisch,
manchmal grafisch-visuell weg vom Prosaischen hin zum Lyrischen
mutiert. Insgesamt erinnert die Schreibweise an (talentiertes)
pubertäres Elaborat. Das schmale Bändchen tut nur von außen schlicht.
Drinnen tobt ein expressives, sich nie genügen wollendes Variieren mit
sprachlichen Versatzstücken. Alles wird in Phrasen gedrängt. Freilich
hält dies vorgefertigte Material Distanz aufrecht. Aber der
sentimentale Impetus und der anklagende Duktus verkehren sie in einen
Überschwang der Gefühle.