können wir schnell langsamer werden?
Lothar Baier versucht sich an der Beschreibung von Beschleunigung
Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung.
München: Antje Kunstmann 2000
Rezensiert von: hannes luxbacher
Seitdem ist einiges an Zeit vergangen. Damals, bei
einem Konzert* der amerikanischen Band Souled Americans in Wien, die
für eine sehr langsame Musik jenseits allen Schielens auf
beats-per-minute steht, waren Teile des Publikums scheinbar
unvorbereitet auf diese dem Hauptact vorgelagerte Vorband. In Erwartung
testosteronabbaubefördernder Rockekstase war der mehr schlurfende denn
peitschende Rhythmus der Souled Americans einem werten Gast wohl
nachhaltig im Wege. Satirisch geschult, rief er der Band zu:
?Langsamer!? Seiner Bitte wurde, wohl eher zu seinem Unmut, ohnedies
nachgegeben, denn das Repertoire bestand sowieso aus nichts anderem als
Langsamem. Musik der Entschleunigung. Wie bei Mazzy Star oder den
Tindersticks. Vielleicht fragen Sie sich jetzt, was das mit dem Buch zu
tun hat, das hier eigentlich besprochen werden soll? Und ich sage
Ihnen: Gar nicht viel bis nichts, aber so viel Zeit muss schon mal
sein, und das hat dann wieder schon etwas mit dem Buch zu tun. Denn
Lothar Baier, Autor und Redakteur der Zürcher Wochenzeitung, hat in 18
Essays versucht, dem Phänomen der Beschleunigung auf den Leib zu rücken
und das Fazit seiner Betrachtungen gleichsam auf den Buchdeckel
gestellt: Keine Zeit. Baier erzählt in den 18 Kapiteln vom historischen
Wandel des Zeitbegriffs und des Zeitgefühls, berücksichtigt die
sozialen und politischen Bezüge, die unser Zeitverständnis prägen und
macht alle diese Ausführungen dankenswerterweise an sehr plastischen
Beispielen fest. Vor allem die Mär, das Computerzeitalter brächte uns
die lang ersehnte Einholung verlorener Minuten und die unermessliche
Ausweitung des Zeitkontingents enttarnt Baier als Nonstop Nonsens. Wo
der Computer zwar einerseits alles Wissen speichern könne, das wir
ansonsten immer wieder mühselig suchen (dürfen) müssen, versperrten uns
die permanenten Weiterentwicklungen am Softwaresektor, die fast niemand
mehr wirklich durchblicken könne, die effiziente Nutzung des gestern
erworbenen Programms. Weil es erstens schon wieder veraltet ist, es
zweitens so viele Tiefenschichten hat, dass während der Erkundung
derselben die Dioptrieanzahl meiner optischen Brille nicht Schritt
halten kann und der Weg zum Augenarzt halt auch nicht der kürzeste ist,
drittens das sich Kümmern um die effektive Nutzung mehr Zeit kostet,
als der Einsatz dann Zeit erspart, weil das Programm siehe erstens. In
einen binären Code gebracht, kann der Computer also wie folgt
beschrieben werden: Zeitgewinn/Zeitauslöschung. Baier, und das ist das
Besondere an diesem Buch, verfällt aber in der Folge solcher Einsichten
nicht einem generalisierten öden Pessimismus und huldigt auch nicht
einer Predigt für die Langsamkeit, sondern gestaltet eine
nachdenkliche, pointiert formulierte Auseinandersetzung mit der
Ressource Zeit, in der überdies psychologische, philosophische und
physikalische Bezüge nicht fehlen.
Stellen Sie sich abschließend vor, sie besäßen eine Uhr, auf der jeden
Tag eine Stunde verloren geht, ohne dass Sie es bemerken. In 24 Tagen
hätten Sie also einen Tag gewonnen. Blöd wäre nur, wenn der gewonnene
Tag ein Montag wäre, Sie Autos produzieren und ich es kaufen würde.
* Mit Dank an Jürgen Plank