sie äsen friedlich datengras
Ein Western-Roman im Cyberspace: Matthias Schamp schickt Brainboys über schillernde Platinen
Matthias Schamp: Hirntreiben.EEG. Ein Western-Roman
Wien, edition selene 2000
Rezensiert von: sabine e. selzer
Irgendwann am St. Nimmerleinstag, die Menschheit hat schon lange aufgehört
zu existieren, stößt Big Daddy Computer, Vater aller Dinge, bei einer
Innenrevision in einem seiner entlegeneren Gefilde auf die Datei HIRNTREIBEN.EEG,
öffnet sie, liest sie - und beschließt, darüber den Verstand zu
verlieren.
Das ist die absolut letzte kontrollierte Handlung, zu der er fähig ist.
In einer postapokalyptischen virtuellen Gesellschaft werden wir Zeugen neuerlicher
apokalyptischer Vorzeichen. Das System gibt seinen untergebenen Bestandteilen
Rätsel auf. Alles scheint sich in einem Teufelskreis des Chaos zu befinden,
in dem Ursache und Wirkung kaum mehr voneinander zu unterscheiden sind.
Aber wir haben es hier auch mit einem „Western-Roman“ zu tun. Und der
Titel Hirntreiben ist wortwörtlich zu verstehen: Eine Herde Hirne soll durch
die Prärie nach Osten getrieben werden - „im Prinzip ist es eine unkomplizierte,
gradlinige Arbeit ohne Schnickschnack und überflüssige Schnörkel“,
bei der sich die virtuellen Muskeln betätigen lassen. Die Programme sind
hochzufrieden mit ihrem Job. Alles ist eitel Wonne.
Bis die ersten Unregelmäßigkeiten auftauchen. Die Umgebung verändert
sich, die simulierte Welt scheint Lücken aufzuweisen, Ungereimtheiten treten
zutage. Auch wenn den Brainboys als kleinen Hilfsprogrammen sehr wohl bewusst
ist, dass sie das große System niemals durchschauen werden, beginnen sie
doch nachzudenken, über sich selbst und den Sinn des Lebens. Und der eine
oder andere zweifelt sogar an der Minderwertigkeit der Hirne. Die Häresie
greift um sich und nimmt erschreckende Formen an, und sehr bald bringt die zunächst
einfache Aufgabe ungeahnte Schwierigkeiten mit sich ...
Der Leser steht vor der ungewohnten Situation, nicht recht zu wissen, mit wem
er sich denn nun identifizieren soll. „Byte the Kid“ bietet sich als
Protagonist und Schreiber des vorliegenden Tagebuches natürlich an. Aber
eine gewisse Solidarität mit den Hirnen als Überresten der Menschheit
ist ebenfalls nicht ganz zu leugnen, wenn sie auch relativ schwach bleibt. Die
Brainboys als denkende Wesen, die sich verständlich zu artikulieren wissen,
stehen uns doch ungleich näher als die glitschigen, schwabbeligen, eben „lebenden“
Hirne, die letzten Vertreter einer so gut wie ausgestorbenen Körperlichkeit.
Im großen System regiert der pure Geist. Es gibt keine Triebe, keine „primitiven“
Bedürfnisse mehr. Das Materielle erzeugt nur noch Ekel. Und wird in dieser
„Diktatur der Intelligenz“ auch systematisch aus der „Realität“
abgezogen. Die gewohnten Begriffe zur Beschreibung des Daseins haben gerade noch
unter - virtuellen - Anführungszeichen Bestand. Es gibt nichts jenseits des
Computers! heißt es. Es gibt kein Außen! Oder doch? Die Helden der
Datenprärie drehen sich im Kreis. Der Text fordert heraus zu hermeneutischen
Spielchen mit den philosophischen Fragen unserer Existenz und Intelligenz und
schillert ganz nebenbei in ebenso vielen Farben wie das Tal, das die Helden zu
Beginn überblicken, eine mit friedlich Datengras äsenden Hirnen übersäte
Platine.