Zwischen zwei Herzen
Kerstin Kempker über geschwisterliche Entfremdung und Kindheitserinnerungen.
Eine Wohnung in New York, es ist Nacht. Eine Frau, wir erfahren ihren Namen nicht, erleidet einen Anfall von Vorhofflimmern. Es ist nicht das erste Mal. Sie schluckt eine Pill in the pocket. „Eineinhalb bis zwei Stunden müssen wir uns nun um die Ohren schlagen“, sagt sie, „damit das Ding wirkt und ich wieder richtig ticke im Sinusrhythmus.“ Wir, das sind die namenlose Frau und ihr Bruder, der zwar nicht da ist, aber irgendwie schon, schließlich sitzt oder steht er mal an dieser, mal an jener Wand, ohne zu sprechen, aber ihr dennoch
Gesellschaft leistend. Seit mehr als sieben Jahren haben die beiden nicht mehr miteinander geredet, seit einem Zusammentreffen zum 80. Geburtstag der Mutter, bei dem lang unterdrückte Gefühle zum Ausbruch kamen, Nebensächlichkeiten zwar, Nichtigkeiten, die
sich jedoch nicht mehr zur Nebensache degradieren ließen und die gut aufeinander abgestimmten Systeme enttakteten. Die Erzählerin blickt zurück auf ihrer beider Kindheit, auf die Beziehung zwischen Bruder und Schwester, die altersmäßig nicht einmal ein Jahr trennt, und auf die Rolle der beiden Eckschwestern, die stets außen vor stehen. Schon als Kind half die Anwesenheit des Bruders, die eigene Unruhe unter Kontrolle zu halten. „Wie schön, dass unsere Herzen in einen gemeinsamen Takt gefallen sind, der zwischen meinem
Gerassel und deiner Herzruhe liegt“, schreibt die Erzählerin in Erinnerung an bange Momente in dunklen, Schutz bietenden Ecken des Hauses. „Du nimmst meine Schwächen auf dich, reinigst sie, holst Nebentöne heraus, schlägst neue an, pulst mir zurück.“ Auch Vater und Mutter werden thematisiert, er offenbar Furcht einflößend, betrügend, gewalttätig; über sie erfahren wir weniger, das Wichtigste: Sie führt Buch über die Kinder, die Notizen werden immer wieder zitiert. A macht dies, B tut das, A hat Persönlichkeit, B ist ein kleiner Schelm, sie ist sehr kritisch, er anhänglich und zärtlich. Unterbrochen wird der Textfluss von Zeit zu Zeit durch schwarz-weiße Fotoausschnitte, die thematisch passend
Fragmente eines Lebens zeigen: ein Haus, ein Fenster, eine Straße, einen großen Esstisch, eine freischwebende Stiege, eine Straßenkarte, von Kinderhand geschriebene Zeilen, Kinderköpfe, Kinderhände, Kinderaugen. In ihnen kulminiert das Geschriebene, sie holen
die Assoziationen des Literarischen ins Konkrete zurück. Das durchkreuzt vielleicht so manchen Lesers Fantasie – denn die Autorin schafft es trotz erzählerischer Abstraktion, Bildhaftigkeit entstehen zu lassen, sodass man Farben, Orte und Menschen vor seinem inneren Auge unweigerlich in persönlichen Vorstellungen zusammenführt –, ist in sich aber ungemein stimmig, macht die Erzählung womöglich überhaupt erst rund. Vielleicht sind es auch die Fotografien selbst, im Gedächtnis abgespeicherte Momentaufnahmen, die lange
Vergessenes, Verdrängtes im Moment der Krise verdichtet an die Oberfläche drängen lassen? Diese Frage lässt die Erzählung offen; nichtsdestotrotz ist die Korrelation zwischen Bild und Text, zwischen figurativer und textlich-allegorischer Bildlichkeit eine ungeheuer
starke. Bruderherz. Ein Flimmern der Berlinerin Kerstin Kempker präsentiert sich in erster Linie zutiefst literarisch, einen Handlungsfaden sucht man vergeblich. Für Liebhaber ausdrucksstarker, anspielungsreicher, oft dichterischer Sprache ist die Erzählung jedenfalls ein Fest, und wem der Stil gefällt, dem sei vor allem auch die 2015 erschienene Prosa Nur die Knochen bitte. Eine Übergabe, die die Tochter der Autorin mit über 400 Piktogrammen wunderbar illustriert hat, ans Herz gelegt. „Dein Sportlerherz jagt mein Hasenherz im Zickzack über das Tischblatt, lässt es über den Graben springen, vor und zurück, der Graben wächst“, sagt die Erzählerin zu Beginn ihres Anfalls in Gedanken zur Schimäre
ihres Bruders. Ob der Graben sich auch wieder schließt, ob die Ursachen der geschwisterlichen Entfremdung identifiziert werden können, erschließt sich dem aufmerksamen Leser am Ende der Lektüre. Vielleicht aber auch nicht.